Nachruf
Ein großer Menschenfreund
Gegen die Berufsbezeichnung Lehrer konnte Ernst-Gust Krämer schlechterdings keinen Einwand erheben. Mein langjähriger Kollege und Freund hätte sich jedoch gründlich verkannt gefühlt, hätte man ihn darauf reduzieren wollen. Seines Amtes war es, Unterricht im Deutschen und in der Philosophie zu erteilen. Auf der Basis seines stupenden Wissens war er zudem in der Lage, in Zeiten des Lehrermangels eine Vielzahl weiterer Fächer zu unterrichten. In der Seele aber war er ein wirklicher Philosoph und im Herzen ein Literat und Künstler. Eine besondere Neigung verband ihn mit dem Theaterspiel. Zu denkwürdigen Anlässen wie etwa Schuljubiläen war es ihm ein Vergnügen, Stücke zu verfassen und auf die Bühne zu bringen. Gelegentlich bekannte er dann, eigentlich seinen Beruf verfehlt zu haben, nur leider hätten es die Umstände so gewollt.
Oft beklagte er das enge Korsett der formalen Vorschriften, das ihm des pädagogischen Ethos unwürdig erschien. In seinen jüngeren Berufsjahren pflegte er sich durchaus mit sarkastischem Elan über deren etliche hinwegzusetzen, wenngleich er einräumte, dass es auch solche geben mochte, die zum Schutze seiner ihm Anbefohlenen ersonnen waren. Jugendliche in ihrer bloßen Rolle als Schülerinnen und Schüler zu sehen, galt ihm für eine déformation professionnelle. Es bereitete ihm schmerzhaftes Unbehagen, sie mit Ziffern etikettieren zu müssen; bestand er doch darauf, es mit Menschenkindern zu tun zu haben. Er war einer der seinerzeit noch wenigen, die dem an Gymnasien verbreiteten bildungsbürgerlichen Dünkel entschlossen entgegentraten, den Streit mit Kollegen nicht scheuend. Manche Lanze brach er gerade für diejenigen unter seinen Schützlingen, die nicht in der privilegierten Sphäre eines akademischen Elternhauses aufwuchsen. Denn er wusste, dass Lernen und Leben zusammengehören. Dieser Einsatz für die Schwächeren, die ungerecht Behandelten war es wohl vornehmlich, der ihn bei seinen Schülerinnen und Schülern beliebt machte und für manche zu einem Vorbild.
Was andere bei ihm für Zerstreutheit hielten, mag im Alltäglichen eine solche gewesen sein. Sie war allerdings Folge eines existentiellen Standpunktes, der die Alltagsgeschäfte etwas Wichtigerem unterordnete. Und in diesem, dem gesellschaftlich, politisch und ethisch Bedeutsamen, gestattete er seiner Wahrnehmung keine Unschärfe. Er kämpfte gegen die Anmaßungen der institutionalisierten Menschenverachtung, denn er litt am Leid seiner Mitmenschen. Viele Jahre hindurch, zu Zeiten, als es noch keine Willkommenskultur gab, setzte er sich bei Amnesty International mit persönlichem Risiko für politisch verfolgte Flüchtlinge ein. Sein Leben lang äußerte er öffentlich scharfe Kritik an der Asylpraxis. Zum Kriegsende hin, fast noch ein Kind, vom Wahnwitz des „totalen Kriegseinsatzes“ selbst aufs äußerste bedrängt, unterstützte er später zahllose Wehrdienstverweigerer mit Vehemenz. Was Ökologie und grüne Politik anbelangte, gehörte er zu den Aktivisten der ersten Stunde. Allzu festes Sicheinfügen in Strukturen war jedoch seine Sache nicht. Es hätte ihn am unorthodoxen Denken gehindert. Sein Nonkonformismus trug ihm leicht Ärger und Unverständnis, zuweilen auch von Gleichgesinnten, ein, bewahrte ihn aber davor, sich der politischen Disziplin irgendeiner Kaderideologie zu unterwerfen. Auf seine unbedingte Solidarität konnten dagegen die schwachen Einzelnen zählen. Wo immer junge Menschen in seiner Umgebung an der Unverhältnismäßigkeit der Verhältnisse zu scheitern drohten, machte er sich zu ihrem leidenschaftlichen Anwalt.
In Gesprächen mit ihm fühlte man sich stets bereichert, durch originelle Zeitdiagnosen von analytischer Schärfe ebenso wie durch funkelnde Aperçus. Je kontroverser man mit ihm diskutierte, desto größer war am Ende der Erkenntnisgewinn. Sein Grundmodus im Umgang mit den gesellschaftlichen Zumutungen war die streitbare Ironie, für ihn eine zutiefst optimistische Haltung. Bis zu jenem Tage, als, beinahe vor seinen Augen, einer seiner Schüler durch ein tragisches Unglück ums Leben kam. Ein Schicksalsschlag, der auch bei Ernst-Gust tiefe Spuren hinterließ. Immer häufiger haderte er nun mit seinem Beruf, empfand eine drückend lastende Verantwortung. Sein leicht melancholisches „Ach, ja ...“, das solche Gedankengänge zu begleiten pflegte, klingt mir bis heute nach.
Ernst-Gust Krämer war nicht nur Pädagoge, Philosoph, Aktivist. Er war ebenso ein begeisterter Familienvater, der mit unverhohlenem Stolz von seinen Kindern sprach, denen beide Eltern eine Fülle von Talenten vererbt hatten. Der anregende musische Geist, der im Hause Krämer wehte, erfüllte ihn mit steter Freude. Besondere Genugtuung war ihm zu erleben, wie sich die künstlerische Seite seiner Persönlichkeit in der Laufbahn eines seiner Söhne verwirklichte. Erst der Ruhestand erlaubte es ihm, sich seinen vielfältigen Interessen ausgiebiger zu widmen. All die Facetten seiner Person, die sich darin spiegelten, können an dieser Stelle nicht annähernd hinreichend gewürdigt werden. Zuvörderst war er ein unersättlicher Leser und fleißiger Rezensent. Selbstverständlich machte er sich früh die digitalen Medien zunutze, aber eben außergewöhnlich für klassisch Gebildete seiner Generation. Im Webschach wie in astronomischen Beobachtungen mit Hilfe seines Fernrohrs, in der kulturgeschichtlichen Beschäftigung mit dem Judentum, im philologisch begründeten Studium seiner Bibelsammlung und der hebräischen Sprache und in vielem mehr suchte er bis ins hohe Alter die intellektuelle Herausforderung. Umso schmerzlicher muss es für ihn gewesen sein, das allmähliche Nachlassen der geistigen Kräfte zu erahnen.
Der unnachsichtigste Kritiker seines Handelns war zeitlebens Ernst-Gust Krämer selbst. Und doch gelang ihm, was nach Adorno nicht sein kann: ein richtiges Leben im falschen. Nun ist ein freier Geist und großer Menschenfreund von uns gegangen.
Norbert Westkamp
30.10.2019